„Bibliothekslatein“ oder Umberto Eco 2.0

lachs

Jeder, der einige Zeit in einer Bibliothek gearbeitet hat, kennt die Sprüche, Vorurteile oder Regeln, die von Bibliothekarsgeneration zu Generation weitergegeben werden. Einige sind seit grauer Vorzeit unverändert, andere habe eine Anpassung an moderne Kommunikationsmethoden erfahren…

1.
Der Bibliothekar muß den Benutzer als dumm betrachten, informationsinkompetent, RSS-unwissend, ein Nichtstuer (andernfalls säße er an der Arbeit) und YouTube-Süchtiger.

2.
Es muß sehr viel Sorgfalt darauf verwandt werden, den Online-Katalog der Bücher möglichst schwer benutzbar zu machen, und ihn von Nutzer-Annotationen freizuhalten. Nach Möglichkeit sollte die Oberfläche immer genau dann eine totale Revision erfahren, wenn man sich gerade an die kryptische Bedienung gewöhnt hat. Der Katalog sollte das genaue Gegenteil von Amazon sein und einen Ausdruck oder Download so gut wie unmöglich machen.

3.
Die Schlagworte müssen vom Bibliothekar in einer aufwendigen Gremienarbeit bestimmt werden, die alle innovativen Kräfte im Lande bindet. Weder dürfen die Leser Schlagwörter vergeben noch die Bücher einen Hinweis auf die Schlagworte tragen, unter denen sie aufgeführt werden sollen. Die Schlagwortsuche im Online-Katalog muß so versteckt und ineffizient sein, dass keiner sie je benutzen wird. Das System der Schlagwörter sollte alle paar Jahre wechseln, so dass es nicht einen, sondern mehrere Schlagwortkataloge gibt, die man durchsuchen muß. Ein Browsen nach Fachgebieten ist gänzlich zu verhindern.

4.
Es sollte möglichst überhaupt nicht möglich sein, Online-Bücher zu lesen, geschweige denn auszudrucken oder zu zitieren. Falls es von Rechts wegen doch eine Download-Option gibt, muß der Weg weit und der Zugang beschwerlich sein, und die Zahl der Kopien begrenzt auf höchstens zwei bis drei Seiten.

5.
Das Ausleihverfahren für E-Books muß abschreckend sein.

6.
Die Auskunft muß im Web 2.0 unerreichbar sein. Die Kontaktaufnahme per Twitter, Skype oder StudiVZ wird mit einem Ausleihverbot nicht unter 3 Monaten bestraft.

7.
Es darf möglichst keine Ruheräume, Gruppenarbeitsräume, Handyzonen oder Lounges geben: Ruheräume laden zu Bibliothekssex ein und sollten deshalb prinzipiell unbequemes Mobiliar haben bzw. von allen Seiten einsehbar sein; Gruppenarbeitsräume sind gefährliches Terrain, da dort der selbstbestimmte Benutzer sein lautstarkes Unwesen treibt; Handys sind der leibhaftige Gottseibeiuns und Lounges eine Anbiederung an die lernfaulen, undisziplinierten und arbeitsscheuen Millenials.

8.
Onlinebücher müssen an nur einem Bibliotheks-PC verfügbar sein, so daß der Benutzer sein Leben in zwei Teile aufspalten muß, einen für das Schlangestehen vor diesem einen PC und einen für die übrigen E-Books zu Hause. Die Bibliothek muss das kreuzweise Lesen von gedruckten und Online-Büchern erschweren, da es zum Schielen führt.

9.
Das ganze Personal darf bei der Ausbildung das Wort Web 2.0 nie gehört, geschweige denn schon mal getwittert haben. Am besten leiden sie an irgendwelchen Gebrechen der Innovationsfreude, denn es ist Aufgabe jeder öffentlichen Institution, Digital Naives und Ludditen Arbeitsmöglichkeiten zu bieten (untersucht wird zur Zeit die Ausweitung dieses Prinzips auf die IT-Abteilungen). Der ideale Bibliothekar darf vor allem nicht bloggen, sollte keinesfalls Ahnung von konvergierenden Technologien haben und muß Instant Messaging für ein neues Fertiggericht halten, damit mehr Zeit vergeht zwischen der Benutzeranfrage im Web 2.0 und der Beantwortung über den korrekten Auskunftsweg in der Bibliothek 0.5.

Gestern wies nun der Leonardo-Newsletter auf die zugrundeliegenden hirnanatomischen und – funktionellen Strukturen hin, die solche Sprüche manifestieren und festigen. Es handelt sich nicht um Vorurteile, sondern um hoch überlerntes Wissen!

Bei einer Umfrage unter zweisprachigen Studenten in Texas stellte sich heraus, dass die meisten in der Sprache kopfrechnen, die auch ihr Mathelehrer in der Grundschule gesprochen hat. Damals haben sich zwischen Sprach-und Rechenzentrum wichtige Verbindungen geknüpft. Oft wiederholte Sätze wie, „Fünf mal fünf ist 25“ oder „sieben plus fünf ist 12“ müssen seitdem nicht mehr „gerechnet“ werden, sondern sind einfach da. Experten nennen solche Vernetzungen „hoch überlernt“.

Also können wir uns bei der alltäglichen Bbliotheksarbeit beruhigt zurücklehnen und dem „Einfach-Dasein“ unseres Gehirns in völliger Ruhe zusehen, wie es in Stein gemeißelte Merksätze meditativ repitiert. Manch einer würde für solch einen Moment des Satori 500 Euro für einen Wochenendkurs hinblättern, aber wir Bibliothekare sind eben einfach da – im Hier und Jetzt …

Foto: Amazon.de

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