Cogitus interruptus – Chronische Zerstreuung

Heidi Stieger gebührt das Verdienst uns im – mittlerweile mehrautorigen – infobib Blog auf den wunderbaren Text von Eduard Kaeser in der NZZ aufmerksam gemacht zu haben: Cogitus interruptus: Googeln, Bloggen und Twittern (Fettdruck durch mich):

Die Menschen des Web-Zeitalters halten das Leben ohne ständige Mehrfachbeschäftigung nicht mehr aus. Die Folge davon ist eine neue Zivilisationskrankheit: die chronische Zerstreuung. Dagegen hilft nur eines – wir müssen eine Kultur der Aufmerksamkeit entwickeln.

Kaeser trifft den wunden Punkt der ganzen Herumgetwitter- und gebloggerei, der „Nebenwirkungen“ der schönen neuen Welt, der Fallstricke für die Multitasking-unfähigen Menschlein, fast auf den Punkt genau und liefert uns bei der Gelegenheit so en passent einer der schönsten weil treffendsten Beschreibung der neuzeitlichen Arbeitsrealität anhand eines eigenen Erfahrungsberichtes:

Multitasking. Kaum sind wir im Netz, regt sich die Versuchung, genau das nicht zu tun, was man sich eigentlich zu tun vorgenommen hat. Wir browsen, bloggen, chatten, googeln, simsen, twittern, zatooen wie die Gehetzten. Ich erlebte das neulich ironischerweise beim Verfassen dieses Textes. Ich tat, was zig Millionen von Desktop-Arbeitern heute tun. Ich googelte nach einem kleinen Artikel zum Thema Multitasking, entdeckte dabei drei weitere einschlägige Artikel, die mich interessierten. Während des Ausdruckens checkte ich en passant meine E-Mails, schaute kurz in die Website der «New York Book Reviews» und blieb an einem Essay von Amartya Sen hängen, über ein völlig anderes Thema. Die laufende Jazzsendung auf DRS 2 stellte gleichzeitig einen interessanten italienischen Pianisten vor, der mir so gut gefiel, dass ich bei i-Tunes nachschaute, diverse Stücke von ihm fand, sie sofort kaufte und herunterlud und auf eine CD brannte. Statt am Text weiterzuarbeiten, begann ich die Musik zu hören, nicht ohne mich zugleich auf der Homepage des Pianisten über dessen Biografie und Diskografie zu informieren. Ehe ich michs versah, war meine Hauptaufmerksamkeit auf zwei oder drei Nebenspuren verzettelt. Ich fand nicht mehr zur Konzentration auf die ursprüngliche Arbeit zurück. «Cogitus interruptus» nenne ich das für mich. Dagegen kenne ich zwei Mittel: Sex oder Joggen. Sie fügen mich wieder zusammen.

Körperliche Betätigung ist in der Tat ein aprobates Mittel gegen die geistige Verzettelung und mag in der Kombination Sex/Joggen wohl tatsächlich den Mindcomputer auf Null, in den Ausgangszustand zu versetzen, sozusagen physisch zu rebooten (und BTW der immanenten Gefahr von Herzrythmusstörungen vorzubeugen). Aber hier sehe ich auch eine – klitzekleine – Ungenauigkeit in der Argumentation Kaesers, der vielleicht unbeleckt von irgendwelchen Meditation/Kontemplationsgeschichtchen ist: Jeder, der seinen Siddartha oder Magister Ludus kennt, dürfte da noch mindestens eine andere Möglichkeit anbieten können, wie man dem ungewünschten Zustand nicht rehabilitativ sondern ursächlich abhilft: Eben sich auf der eigentlichen Ebene des Miß-Geschehens – dem Geistigen – zu behelfen und der geistigen Verzettelung die Versammlung/Konzentration auf geistige Inhalte (siehe Kontemplation bei Wikipedia) gegenüberzustellen. Kaeser spricht in diesem Punkt lediglich – und wie mir scheint unpräzise – von Aufmerksamkeit. Der Aufmerksamkeit fehlt mir aber der entscheidende Faktor, um sich den Zerstreuungen zu entziehen: Die Willenskraft. Konzentration ist Aufmerksamkeit + Willenskraft.

Ich habe noch ein wichtiges Argument gegen die Kaeserischen Thesen: Mir ist es doch tatsächlich gelungen, seinen ziemlich langen Text in einem Stück – ohne Unterbrechung und Ablenkungen – zu lesen! Das spricht auch für ihn aber noch mehr für das Gerät, auf dem ich den Text las: Den iPhone. Durch die Singularität der Anwendungen und geöffneten Fenster (nicht 10 wie auf dem PC, sondern immer nur eins) schafft der iPhone (so ähnlich wie das gedruckte Buch) ein Distraction-Free Interface (offline), einen ablenkungsfreien Raum. (Exact Editions hauen in die gleiche Kerbe)

Aber zurück zu Kaeser, der mit allem ziemlich richtig liegt, auch mit folgendem:

Die Psyche verkraftet offensichtlich die Datenflut schlecht. Wer im Büro jede dritte Minute einem Unterbruch ausgesetzt ist und auf dem Computerbildschirm acht Fenster geöffnet hat, riskiert, abgelenkt, kribblig, impulsiv und ruhelos zu werden, und – auf lange Sicht – Leistung abzubauen, in ironischer Verkehrung dessen, was uns die neuen Technologien eigentlich verheissen haben. Wir werden zu Kommunikations-Spastikern. Hallowell prägte einen neuen Begriff für dieses Zwangsverhalten: «Frazzing», Kürzel für «frantic multitasking» (also die «rasende» Form von Multitasking).

Gleichzeitig mit gleicher Konzentration zwei verschiedene Dinge zu tun, sagt der Münch- ner Gehirnforscher Ernst Pöppel, sei physiologisch nicht möglich: «Was geschieht, ist eigentlich eher etwas Negatives: Ich schalte sehr schnell zwischen verschiedenen Kontexten hin und her, konzentriere mich also drei Sekunden lang auf einen Sprachfetzen, drei Sekunden auf das Fernsehen, drei auf den Computer. Das kann ich endogen tatsächlich steuern. Aber der Effekt ist, dass es zu einer Art schizoidem Denken kommt, mit dem nichts mehr verbunden ist. Es gibt dann keine Nachhaltigkeit der Repräsentation mehr, keine Nachhaltigkeit der Informationsverarbeitung.»

Und hier möchte ich etwas einwerfen bzw. den Gedanken fortführen: Es gibt in der Twitter- und Facebookwelt ja nicht nur schizoides Denken, sondern – was viel schwerer wiegt – schizoide Persönlichkeiten! Auf Twitter habe ich jetzt drei, nein vier Accounts (zur Sicherheit), auf Facebook zwei, mein MySpace-Account ruht im Moment, dann habe ich noch einen auf Xing, einen im Nature Network, die Zahl der Blogs, die ich schreibe, habe ich aus den Augen verloren irgendwas zweistelliges, und letztens wurde ich vorwurfsvoll gefragt, wieso ich noch nicht bei LinkedIn sei. T.Scott hat in seinem Posting „Trying To Be Complete“ mal wunderbar beschrieben, wieso er nicht „schizoid“ sein mag:

In my own case, there simply isn’t a separation, and it has been that way for a long time, […] All of us have many, many aspects to our selves — Lynn teases me about „responsible guy“ and „night guy,“ (as Frisse once famously said of Lynn, „the woman has whole cities inside her“) — but the boundaries are porous, and in the world in which we now live, impossible to maintain. You are fooling yourself if you think you can. […] I’m no longer looking for „balance“ because that still seems to imply managing two poles. I don’t have a „personal“ or „professional“ side. I strive to be complete.

Aber wieder zurück zu Kaeser, der uns an die eigene Nase und Zerstreuungslust packt:

Wir sind es, die uns sozusagen über die Geräte gegen uns selbst richten. Reflektierte Zeitgenossen wie etwa der englische Journalist Andrew Sullivan – ein bekennender Blogger – sehen das durchaus ein: «Wenn es darauf ankommt, mich hinzusetzen und ein mehrseitiges Druckprodukt oder, Gott bewahre, ein Buch zu lesen, klemmt mein Geist einen Augenblick lang. Nach der Lektüre eines Abschnitts bin ich reif für einen neuen Link. Aber die Prosa vor meiner Nase streckt sich dahin. Ein paar Abschnitte weiter, und ich greife zum Laptop. Es verhält sich nicht so, dass ich nicht Zeit fände zum wirklichen Lesen, zum mussevollen Aufnehmen von Argumenten oder Geschichten. Vielmehr ist mein Geist so konditioniert, dass er sich dagegen sträubt.»

Ok, guter Punkt, trifft sicherlich zu. Aber das ist nichts Neues, das kennen wir schon vom Fernsehen. Immer schnellere Schnitte, dazu wird gezappt (das sollen angeblich nur Männer machen), das sich die Balken biegen. Statt einem Film werden drei geguckt, sonst hat man das Gefühl, was verpasst zu haben. Und wir haben uns angepasst – MTV-Geschwindigkeit ist jetzt die Norm, ein alter Truffaut-Film (letztens wieder „Sie küssten und sie schlugen ihn“ – ein seltener Genuß!) zwingt zu Geduld und Willensstärke – oder einer Fernbedienung mit Zeitschloss.

Alles in allem spricht Kaeser mir aus der Seele und formuliert das elegant, was sich bei mir an Gedanken so in der letzten Jahren angesammelt hatte und nur deswegen keine Niederschrift fand, weil ich mich immer so schnell ablenken lasse halt nun mal kein Philosoph bin. 😉